Seit einiger Zeit ist immer häufiger von disruptiver Entwicklung die Rede. Während das Wort bislang nur Experten ein Begriff war, rückt es nun verstärkt in den allgemeinen Sprachgebrauch. Doch was meint „disruptiv” eigentlich? Und wo liegen die Unterschiede zwischen Innovation und Disruption?
Henry Ford soll einmal Folgendes gesagt haben: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt, schnellere Pferde“. Das Zitat lässt sich zwar nicht eindeutig dem berühmten amerikanischen Gründer und Automobilpionier zuschreiben, bringt aber eine wichtige Erkenntnis auf den Punkt: Fortschritt ist nicht gleich Fortschritt.
Neue Ideen und Produkte gibt es jeden Tag
Auf der Welt vergeht kein Tag ohne Erfindungen. Jeden Tag hat irgendwo auf der Erde irgendjemand eine geniale Idee. Nun sind Inventionen, also Erfindungen, noch keine Innovationen. Von der Invention bis zur Innovation, bis zum neuen Produkt oder neuen Geschäftsmodell ist es oft ein langer und steiniger Weg. Und nicht immer wird dieser Weg auch bis zum Ende gegangen.
Dennoch sind Innovationen alltäglich. Denn bei den vielen Abermillionen Ideen schaffen es auch viele neue oder stark weiterentwickelte Produkte auf den Markt. Ein Elektroauto ist eine große Neuerung, auch wenn es vorher bereits Autos gab. Die Weiterentwicklung und Verbesserung bestehender Produkte ist die häufigste Form von Innovation, denn schließlich kann man das Rad nicht ständig neu erfinden.
Innovationen betreffen aber nicht nur Produkte, sondern auch Geschäftsmodelle, Märkte, Verfahren, Prozesse, Vertriebswege oder Kommunikationskanäle. IKEA ist nicht unbedingt für innovative Produkte bekannt. Das schwedische Möbelhaus hat jedoch ein völlig neues Geschäftsmodell entwickelt, indem es einen Teil der Wertschöpfung zum Kunden ausgelagert hat: nämlich Transport und Zusammenbau. Ein anderes Beispiel ist Dell. Beim amerikanischen PC-Hersteller konnte schon in den 1990er-Jahren Computer selbst zusammenstellen und direkt über das Internet bestellen.
Veränderungen geschehen andauernd, und evolutionäre Innovationen gehören zu unserem Alltag. Ständig verbessert jemand ein Produkt, hat eine Idee, wie man dies oder jenes besser machen könnte. Manche Innovationen sind sogar so subtil, dass sie uns gar nicht weiter auffallen.
Innovationen, die alles auf den Kopf stellen
Ganz anders verhält es sich mit disruptiven Innovationen. Sie sind weniger evolutionär als vielmehr revolutionär, man könnte auch sagen: zerstörerisch. Das ist die eigentliche Bedeutung des Wortes „disruptiv“. Das stammt aus dem Lateinischen „disrumpere“ und meint wortwörtlich „zerreißen“. Das lateinische Original beschreibt ziemlich genau, was disruptive Innovationen tun: sie zerreißen bisherige Märkte und Geschäftsmodelle förmlich in der Luft. Sie nehmen sie auseinander, bis nichts mehr übrig bleibt von dem, was mal war.
Disruption, versteht sich, kommt seltener vor als die gewöhnliche Innovation. Nicht jeder Einfall, nicht jede technologische Entwicklung hat das Potenzial, vorhandene Märkte zu zerstören. Es ist auch nicht so, dass disruptive Innovationen dazu führen, dass Produkte vollständig verschwinden. Allerdings kann das Bisherige häufig nur noch in einer kleinen Nische überleben.
So hat im 18. und 19. Jahrhundert das Dampfschiff das Segelschiff in wesentlichen Bereichen der Schifffahrt ersetzt. Um die Jahrhundertwende wurden Kutschen als privates Transportmittel durch das Automobil verdrängt. Ende des 20. Jahrhundert schob die Compact Disc (CD) die Schallplatte zur Seite. Segelschiffe, Kutschen und Schallplatten gibt es noch heute. Allerdings nicht mehr in ihrem ursprünglichen Markt.
Übrigens zeigen diese Beispiele, dass disruptive Innovationen selbst nicht davor gefeit sind, von einer weiteren Welle der Disruption weggefegt zu werden. Das Dampfschiff ist längst nicht mehr das Mittel erster Wahl für den Transport auf Wasserstraßen. Und die CD ist in Zeiten von Streaming-Diensten ein Auslaufmodell ohne große Zukunft. Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele für disruptive Technologien in der Geschichte finden.
In jüngster Zeit ist vor allem das Silicon Valley Treiber von Disruption und damit von Entwicklungen, die ganze Branchen vollkommen umkrempeln. Neu ist bei vielen disruptiven Innovationen der Digitalisierung gar nicht so sehr das Produkt, als vielmehr der Denkansatz.
Eine ganze Branche in Aufruhr
Ein sehr häufig genanntes Beispiel für disruptive Innovation ist das US-Unternehmen Uber. Der Online-Vermittlungsdienst für Fahrdienstleistungen mischt gerade die Taxibranche rund um den Globus auf. Neu ist bei Uber weder das Auto noch die Idee, dass eine Person andere Personen zu einem bestimmten Ort befördert.
Wirklich innovativ und für die Taxibranche gefährlich ist die Möglichkeit, dass tatsächlich jeder andere Personen befördern darf und Uber an der Vermittlung verdient. Wenn eine kritische Masse die Apps von Uber nutzt, dann braucht man keine Taxis mehr. Dann hätte Uber das Taxi-Business zerstört – das kann man durchaus als disruptiv bezeichnen.
Disruptiv oder nicht?
Allerdings muss es auch nicht immer so radikal zugehen wie bei Uber und den Taxis. Wobei anzumerken ist, dass Uber nicht von allen als disruptiv angesehen wird. Ausgerechnet Clayton M. Christensen, der Mann, der mit seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“ (1997) die Theorie der disruptiven Technologie sozusagen erfunden hat, kann an Uber wenig disruptives feststellen.
Disruptive Unternehmen zeichnen sich laut Christensen dadurch aus, dass sie das untere Marktsegment oder unversorgte Kundenbedürfnisse ansprechen. In der Dezemberausgabe 2015 der Harvard Business Review sagt Christensen, dass Uber weder Nutzer am unteren Ende der Qualitätsstufe anspricht, noch einen Markt schaffe, der davor nicht existierte. Das gleiche gelte übrigens für den Elektroautohersteller Tesla.
Das zentrale Wesen eines Innovationstreibers liegt in der digitalen Technologie oder besser noch der Digitalisierung. Auf Basis von digitaler Technologie geschieht immer wieder Folgendes – und zwar auch im Falle Uber: Ein Start-up besetzt die Kundenschnittstelle
- mit einem besseren Service – Bestellen eines Wagens, bessere Fahrzeuge, höhere Qualität, Freundlichkeit der Fahrer etc.
- oder zusätzlichen Benefits – Rating der Fahrer, Zahlen per App, Transparenz zur Verfügbarkeit, Anfahrzeiten usw.
Dann beginnen die Newcomer die Kundenbeziehung auszubauen, neue Geschäftsmodelle anzuwenden, einzuführen und zu monetarisieren. Das ist disruptiv, denn es zerstört die Geschäftsgrundlage des Taxiunternehmers.
Durch die Digitale Transformation stehen Märkte und Geschäftsmodelle in vielen Branchen unter großem Druck. Ausgelöst von Start-up-Unternehmen, die in der jeweiligen Branche bisher keine große Rolle gespielt haben. Die Branchenführer sind wirksamen Angriffen ausgesetzt, gegen die sie sich mit einer Strategie wappnen müssen.
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